Carl Salverius – keine Naht bleibt unvergessen

Wenn wir damals als Kinder mit unserem Vater zu Onkel Carl gingen und Segelklamotten, Schuhe oder Stiefel bekamen, war es immer ein besonderes Erlebnis, diese urtümliche Welt eines Segelmachers zu betreten.

Die Haustür vorne an der Neuen Straße war tagsüber nie abgeschlossen und die Küchentür von Tant Mine stand immer offen und kontrollierte somit den Fußverkehr vom langen Flur. Es gab auch einen Zugang vom Hafen her über eine Stahltreppe, die von einem alten Kriegsschiff stammte und direkt nach oben in die Werkstatt führte. Durch eine Tür zum großen Takelboden betrat man dann die Welt eines Segelmachers. Hier saß Onkel Carl meist an der Nähmaschine am Fenster zum Hafen und ging seiner handwerklichen Arbeit nach.


Stets ein fröhliches Lied singend oder pfeifend, hörte man ihn schon auf der Treppe. Der erste Kontakt war freundlich und mürrisch zugleich und lud zum Schmunzeln ein. Die Unterhaltung funktionierte in gewohnter plattdeutscher Sprache! Je nach Wunschäußerung folgte die Anweisung per Fingerzeig in die Richtung, die man schon kannte. Für uns Jungs waren es meist Segelplünnen“! Hier lagen und hingen all die Sachen, die ein Segler so dringend brauchte. Vom Buseruuntje oder Buscherump, wie der Hamburger sagt, nebst Takelhemden, Ölzeug, Troyer in dunkelblau, Segelstiefel, Schwimmwesten mit Korkeinlagen und Pudelmützen ohne Pudel. „Nümm bi’t Plünnen jüüst wat grooter, so dat kolt is, mutt wat warms unner“, bölckte Onkel Carl von achtern und das war eigentlich die einzige Beratung!

Überhaupt war der riesige Boden ein Ort für alles, was ein Berufs- oder Freizeitschipper benötigte. Unter der gesamten Decke hingen Schäkel, Karabiner, Spanner, Haken, Lippen, Klüsen, Ösen, Blöcke, aufgeschossene Tampen, Segelbeschläge, Positionslampen aus Messing und entlang der Seiten jede Menge Drahtrollen zur Herstellung für Wanten, Stagen und Festmacher, in der Luft der unvergessene Geruch von getränktem Takelgarn.


Auf dem alten Holzboden wurden auch die Segel aus Baumwolle zugeschnitten, bevor diese auf Maß mit Hand und Maschine gefertigt wurden. Diese schwere Arbeit konnte nur auf den Knien verrichtet werden, denn das Baumwollmaterial war in der Fläche schwer und steif.


Carl Salverius kannte schon aus jungen Jahren schwere Arbeit. Geboren wurde er 1897 auf der Insel Norderney. Das Elternhaus steht noch heute in der Seilerstraße Hausnummer 10. Sein Vater Hinrich war von Beruf Fischer und Schiffer. Er nahm seinen Sohn früh mit an Bord und lehrte ihm Geschick, Wissen sowie das Gefühl für Wind und die Arbeit auf See.


Im Sommer verdiente Vater Hinrich seinen Unterhalt mit dem Fischen auf Schellfisch und Segeltörns mit den damals vornehmen Gästen vom Festland. Aus den Einnahmen konnte er seine Familie gut über die Runden bringen, denn die Winter waren lang und bei Eisgang war die Insel eingefroren.


„Da gab es beim Schlachter und Bäcker ein dickes Buch, in dem die gekauften Waren für die Bezahlung im Sommer eingetragen wurden.“ So gab er uns Jungens mit auf den Weg: „Wenn ihr später große Kerls seid, geht frohen Mutes eurer Arbeit nach und seid sparsam.“ 1911 kam der junge Carl unter die Fittiche der Kirche und wurde anschließend konfirmiert.


Das war damals eine Art Reifezeugnis. Anschließend absolvierte Carl bis 1914 eine Lehre zum Segelmacher bei Meister August Redell in Norderney. Dieser entstammte einer alten


Norderneyer Reepschläger- und Segelmacherfamilie, die ihrem Ursprung nach Helgoländer waren. Er erlernte bei seinem Meister den Beruf des Segelmachers von der Pike auf und erwarb eine gute Hand für Tuch und Faden.


1914 wurde ihm der Gesellenbrief in Aurich von der Kammer überreicht. „Ik bünn nu lang Tieden in Läär, avers mien Hart is alltied up Nörderney bleven“, erzählte er als betagter Mann, ein Zeichen der noch immer bestehenden Verbundenheit zu seiner Heimatinsel.


Der 1. Weltkrieg versetzte den jungen Segelmacher auf die kaiserliche Marinewerft in Wilhelmshaven, bevor er dann an die Westfront zum Infanterieregiment 92 beordert wurde. Auf einem seiner letzten Geburtstage drückte er mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck diese Zeit aus: „Dat was een marl Tied, ik as Sailmaker kunn good neihen, avers scheeten kunn ik blood um Eck!“


Im Jahre 1921 kam Carl Salverius nach Leer in Anstellung beim Segelmacher Küper in der Neuen Straße. Es gab sehr viel Arbeit in dieser Zeit und es gab eine Segelmacherpier an der Tjalken, Mutten, Fischkutter und größere Segelschiffe anlegen konnten, um Reparaturen durch Segelmacher fertigen zu lassen.


1922 heiratete er seine Frau Hermine geb. Visser. Aus ihrer Ehe gingen drei Jungs hervor!

Carl Salverius als Geselle in der Küper‘schen Segelmacherei war schon damals ein guter Handwerker. Leider verunglückte Meister Küper bei einem Segeltörn in der Ledamündung tödlich und dessen Sohn, ebenfalls Segelmacher, übernahm das väterliche Geschäft. Sein geschäftliches Wirken blieb jedoch erfolglos und die Segelmacherei stand vor der Schließung. Die Handwerkskammer in Aurich half in der Krise und bat Carl Salverius, den kleinen Betrieb zu übernehmen. Carl nahm

die Herausforderung an, erwarb seinen Meistertitel und war nunmehr selbstständiger Segelmacher in Leer. Im späteren Verlauf seines langjährigen Berufslebens wurde er von der Kammer zum Segelmacher-Obermeister für seine Zunft ernannt. Die Ausbildung junger Menschen lag ihm wohl sehr am Herzen, denn in seinem Betrieb durften viele Lehrlinge das Handwerk des Segelmachers erlernen.


Kurz vor Ende des 2. Weltkrieges verlor er seinen Sohn Hinrich im Krieg, dessen Verlust er bis ins hohe Alter nicht überwunden hatte. In der Zeit nach 1945 veränderte sich auch für die Segelmacher durch eine neue Zeit vieles! Die alten Segelschiffe wurden nicht mehr gebraucht und moderne Schiffe mit viel Tonnage und starken Schiffsmaschinen liefen nunmehr von den Helgen der Werften.


Die Werkstatt musste sich umstellen auf die Herstellung von Persenningen, LKW Planen und Drahtarbeiten. Zunehmend entwickelten sich im Segelsport neue Perspektiven, moderne Materialien aus Kunststoff mussten gefertigt werden.


Anfang der 70er Jahre bedrohte ein Unglücksfall seine Existenz in der Neuen Straße. Der alte Ölofen auf dem Takelboden explodierte durch Verpuffung so heftig, dass es zu einem Brand kam. Das Feuer konnte zwar durch die Feuerwehr gelöscht werden, jedoch lief das Löschwasser


von oben bis unten in die Wohnräume. Dieser Unglücksfall bedeutete für Carl Salverius aber auch die Möglichkeit eines Neuanfangs. Das gegenüberliegende Geschäftshaus des Fahrradhändlers Georg Barth konnte erworben werden und somit hatte die Firma eine neue Adresse. Hier war ebenerdig Platz für die Werkstatt und das aufkommende Ladengeschäft für den Wassersport. Alles konnte nun wesentlich besser für Kunden präsentiert werden und Onkel Carl war sehr zufrieden. "Nu hangen de Plünnen so moi un fien up Bögels, wat’n Weeswark, dat löpt!“ Bis zu seinem 85. Lebensjahr saß Carl Salverius wie eh und je hinter seiner Nähmaschine! "Ik hebb Schnuut nu vull“, hat er damals zu seinen alten Kunden gesagt und übergab seiner Zeit Laden und Werkstatt seinem Sohn Ludwig und dessen Sohn Uwe Salverius.


Diese wiederum übergaben das Geschäft 1997 an den Segelmacher Thorsten Vollborth und den aufmann Ingo Battermann, die weiterhin unter dem Namen Salverius Nachfolger firmieren und den Betrieb weiter erfolgreich ausgebaut haben.

Carl Salverius selbst verstarb 1992 nach einem arbeitsreichen Leben im gesegneten Alter von 95 Jahren in Leer.

Text von Klaus Tietjen