Zwei Herzen und ein Schiff
Es war ein ungemütlicher Tag mit Regen und Sturmböen. Jedoch zum Abend hin zeigte sich Petrus gnädig und die Sonne schob sich mit letzter Kraft durch die drohenden Wolken und zeigte ein Schauspiel an Farben, wie sie nur die Natur selbst am Himmel inszenieren vermag. Es waren durch Wolken unterbrochene Lichtstrahlen, die sich wie ein Fächerspiel über die Flusslandschaft legte.
Da stand ich nun in der ersten Reihe auf dem Emsdeich vor meiner Haustür und genoss diesen Moment, als ich in der Ferne im Gegenlicht der Abendsonne ein kleines Schiff mit auflaufendem Tidenstrom erkannte.
Als dieses Schiff unterhalb der Flussinsel Bingumer Sand fuhr, traute ich meinen Augen nicht, denn nach Beseitigung meiner Zweifel erkannte ich, dass es die alte „Elbe“ war, jener kleine Fischkutter, der viele Jahrzehnte von Frühjahr bis Herbst im Mündungsbereich der Leda in die Ems unter Pluumhörn auf der Rheiderländer Seite vor Anker zum Fischen lag. In der Winterzeit prägte die „Elbe“ das Bild des heute verschwundenen Muhdehafens Leerort. Auf einmal waren alte Erinnerungen aus meiner Jugendzeit in Leerort hellwach, Erinnerungen an die Gebrüder Jan und Heiko Bloem, die als letzte Berufsfischer den Kutter betrieben.
Da die „Elbe“ ihren Kurs Ems aufwärts nahm, kam nur die Möglichkeit der Häfen Weener oder Papenburg als Zielhafen in Frage. Am nächsten Tag fuhr ich nach Weener und fand im Alten Hafen ihren Liegeplatz, klopfte etwas aufgeregt an Deck und lernte die heutigen Eigner Wim und Greet Nijmands kennen.
Zum „Kopje Koffie“ an Bord eingeladen, saß ich nun nach gefühlten 100 Jahren wieder an Bord des alten Schiffes, welche mich an eine unbeschwerte Zeit mit vielen Geschichten erinnerte.
Nun konnte ich im Gespräch über die Geschichte der „Elbe“ einiges erfahren.
Der Rumpf aus Stahl, der Schiffsboden aus Eichenholz misst die „Elbe“ nach Angaben einer Kopie des Schiffsmessbriefes vom 25.3.1948 eine Länge von 11,53 m x 4,26 m Breite und einem Tiefgang von 1,29 m! ( Hier wurde damals nicht preußisch vermessen denn die tatsächlichen Maße der „Elbe“ liegen bei 12,50 m x 4,30m x 1,20).
Seitenschwerter sind auf alten Aufnahmen aus dem Hafen Bielenberg nicht zu erkennen. Daher ist es anzunehmen, dass ein Mittelschwert mit Schwertkasten vorhanden war denn die „Elbe“ hatte keinen festen Kiel. Die Rumpfform mit relativ geraden Steven und überfallendem Jachtheck wurde als Segelkutter typisiert und eingetragen. Dieser eher seltene Schiffstyp war schon zu damaligen Zeiten ein Sondermodell von denen wenig gebaut wurden.
Es gilt als ziemlich sicher, dass die alte Lady zwischen 1895-1900 im Auftrag der kaiserlichen Kriegsmarine gebaut wurde.
In anderen Unterlagen wird das Baujahr 1914 überliefert. Als Heimathafen wird Bielenberg an der Elbe genannt. Aus dem genannten Schiffsmessbrief von 1948 ist ein Hinweis auf eine Erstausfertigung des Messbriefes vom 7.September 1920 ersichtlich. Wahrscheinlich ist, dass es sich hier um ein geschätztes Baujahr handelt, da originale Dokumente 1948 bei Ausstellung des zweiten Messbriefes nicht vorlagen. Nicht auszuschließen ist, dass in jenen Zeiten verschiedene Daten nicht korrekt überliefert oder vorhanden waren.
Von 1900 bis 1918 fuhr sie zunächst als segelfahrender Tonnen- und Kabelleger mit Hilfsmotor, Heimathafen Bielenberg/Elbe, unter dem Kapitän Willy Sietas (geb. 1872), wie aus historischen Versicherungsdokumenten der Schiffergilde Einigkeit in Elmshorn zu entnehmen ist. Sein Vater Diedrich Sietas (geb. 1832, gest. 1899) aus Bielenberg war zwischen 1860 bis 1895 „Leuchtschiffcapitain“ und Tonnenleger.
Schon vor dem Tod seines Vaters übernahm Sohn Willy das Amt des Tonnenlegers der Station in Bielenberg.
Ab 1900 bis 1910 hatte er sogleich die Aufsicht des Feuerschiffes „Krautsand“, ein Quermarkenfeuer zur Kursänderung von der Richtfeuerlinie Pagensand zur Richtfeuerlinie Stadersand, wie aus einer alten nautischen Beschreibung zu entnehmen ist. Später wurde das Feuerschiff durch eine Leuchtbake auf Pagensand ersetzt und die „Krautsand“ eingezogen, heißt es dort weiter!
Als Tonnen und Kabelleger unter Willy Sietas hat die „Elbe“ wohl nicht lange gedient, denn die Zeit unter Segel ging langsam zu Ende und starke Motoren in größeren Schiffen lösten die Kleinschifffahrt ab. Zudem wurden die Fahrwassertonnen größer und schwerer und unsere „Elbe“ zu klein und unhandlich für ihre Einsätze auf dem Fluss.
Lediglich die vorhandenen Leuchtfeuer mit Petroleum zu versorgen und als Ersatzfahrzeug von der Behörde in Glückstadt für einen Tonnenleger-Dampfer eingesetzt zu werden, verblieben für die kleine „Elbe“ als Aufgaben.
Nach diesem Zeitabschnitt verliert sich die Spur der „Elbe“! Wahrscheinlich diente die „Elbe“ als behördliches Inspektionsschiff, was aber nicht eindeutig erwiesen ist.
Erst Im Jahre 1920 lichtet sich durch einen Auszug vom 8.März im Schiffsregister sowie einer Schuldurkunde vom 10.November gleichen Jahres der historische Nebel.
Der Kurs führt nach Ditzum an der Ems und die „Elbe“ wechselte durch Kauf in die Fischerfamilie Bruhns über und diente fortan als Fischereifahrzeug (zunächst ohne Motor) unter der Fischereinummer DIT 61.
Berichtet wird aus einer mündlichen Überlieferung, dass 1940 die „Elbe“ von der Wehrmacht beschlagnahmt wurde, um an der Operation Seelöwe zur Invasion Englands teilzunehmen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war ein Motor wohl eingebaut!
Diese schon zu Beginn fragwürdige Operation wurde jedoch nach fast einem Jahr abgebrochen und unsere „ Elbe“ kehrte in friedliche Gewässer nach Ditzum zurück.
1955 folgte der Übergang an die aus Leerort stammenden Gebrüder Jan und Heiko Bloem als Pächter des Schiffes, erst 1966 unter der Fischereinummer LEE 1 amtlich eingetragen.
Die Gebrüder Bloem fischten mit der „Elbe“ als sogenannten Kuilkutter oder auch Hamenkutter, mittels Flut- und Ebbanker viele Jahrzehnte auf dem angestammten Liegeplatz vor dem alten Emsarm nach Kirchborgum. Sie fischten mit der „Elbe“ Aal sowie Köderfisch für ihre Fischkörbe, die für ihre aus Weiden geflochtenen Aalkörbe an langen Stahltrossen, auch Reep genannt, zur Mitte des Flusses auf Grund abgesenkt und nach einer Tide geleert wurden.
Es waren guten Zeiten, als die Flussfischerei ihre Blütezeiten hatte und Stint, Aal & Co. die Familien in den Fischerdörfern an der Ems ernährten.
1975 erbt der Binnenschiffer Heinrich Schepers aus Haren die „Elbe“,der lange Jahre mit Reemt Bruhns gut befreundet war. Hein (Rufname) hatte in den Kriegsjahren, als er als Schiffsführer auf einem Binnenschiff fuhr, durch Tieffliegerbeschuss ein Bein verloren und erhielt fortan eine Beinprothese, was ihn jedoch im späteren Alter nicht daran hinderte, seinen Traum,mit der „Elbe“ auf der Ems „auf Aal zu fischen“ zu verwirklichen. Da das Schiff in die Jahre gekommen und auch nicht im gepflegten Zustand war, mussten Mast, Ausleger sowie Kuilrahmen erneuert werden. Kurzerhand fielen diese aus Holz gefertigten Teile der Motorsäge zum Opfer, damit das Schiff die Passage nach Haren absolvieren konnte denn niedrige Brückenhöhen mussten unterfahren werden.
Ein Harener Binnenschiff nahm die „Elbe“ wie vereinbart eines Tages in Schlepp und sie wurde so zur Kötter Werft verholt. Nach einer Umbauphase kehrte die „Elbe“ zurück nach Leerort. Wo einst der hohe Holzmast stand, fungierte auf halbe Länge verkürzt nunmehr ein Stahlmast. Die Rahmen, an denen die Netze befestigt waren, wurden ebenfalls durch Stahlrohre ersetzt sowie ein 18 PS Deutzmotor Baujahr 1937 eingebaut und an neuer Farbe hat es auch nicht gefehlt. Die neue Silhouette der „Elbe“ kam bei den Leerorter Fischern gar nicht gut an! Es war auch ein etwas unwürdiger Anblick, jedoch funktional und der Rumpf im neuem Glanz gestrichen.
1978 führt die Zeitreise durch Verkauf weiter in die Niederlande und zwei weitere Eigner folgten in den Jahren danach. Erst 1996 wurden Wim Sluiters und Greet Nijmands aus Oosterbeek (NL) die neuen und zugleich rettenden Eigner in der langen Historie der „Elbe“. Es folgte über Jahre eine totale Restaurierung des Schiffes, die mit viel Liebe zum Detail durchgeführt wurde. Die „Elbe“ wurde sogar wieder unter 100 qm Segel genommen und bekam nach über 100 Jahren ihr ursprüngliches Aussehen wieder und damit als eleganter Segler ihr zweites Leben zurück.
Im Jahr 2002 konnten die umfangreichen Maßnahmen abgeschlossen werden. Wieviel Mühe, Ausdauer und so manche Schweißtropfen lagen nun hinter Wim und Greet. Sie hatten es geschafft, dieses alte Schiff wieder in Fahrt zu bringen und sind nun jährlich als Gaffelkutter getakelt unter Segel auf Flüssen, Kanälen sowie der Nord- und Ostsee unterwegs. So fährt die „Elbe“ nun weiter mit ihrer langen Geschichte in die Zukunft. Zufrieden und dankbar, mit zwei Herzen auf ihrem Schiff!
Text von Klaus Tietjen